Die rheinische Oberkirchenrätin Dr. Wibke Janssen hat die Kirchen zur uneingeschränkten Solidarität mit Israel aufgerufen. Vom Ökumenischen Rat der Kirchen würde sie sich wünschen, „dass er sich profilierter und eindeutiger in der Verurteilung der Gewalt der Hamas äußert“, sagt das Kirchenleitungsmitglied der Evangelischen Kirche im Rheinland. Janssen und der für den Bereich Christen und Juden zuständige Dezernent Dr. Volker Haarmann äußern sich im Interview auch zu Kritik an Israel und den Folgen des Krieges im Nahen Osten für das christliche Dorf Nes Ammim im Norden Israels.
Warum fallen kirchliche Reaktionen auf den Krieg im Nahen Osten bislang eher zurückhaltend aus, vor allem die Erklärungen von Kirchenbünden wie dem Weltkirchenrat?
Wibke Janssen: Die Evangelische Kirche im Rheinland hat sich schnell und uneingeschränkt an die Seite Israels gestellt. Angesichts der unermesslichen Gräuel der Hamas hat Präses Thorsten Latzel auch den jüdischen Gemeinden im Rheinland tief empfundenes Mitgefühl ausgesprochen. Wir solidarisieren uns öffentlich mit Israel, bei Kundgebungen, in Gottesdiensten und Andachten. Aktuell bauen wir eine öffentliche Plattform auf für die vielen Aktivitäten unserer Landeskirche, ihrer Kirchenkreise und Gemeinden im Zusammenhang mit Israel und Palästina. Vom Ökumenischen Rat der Kirchen würde ich mir in der Tat wünschen, dass er sich profilierter und eindeutiger in der Verurteilung der Gewalt der Hamas äußert.
Die rheinische Kirche unterhält viele Kontakte und Partnerschaften mit Akteuren im Nahen Osten. Welche Reaktionen auf die Eskalation der Gewalt durch den Angriff der radikalislamischen Hamas kommen bei Ihnen an?
Janssen: Zunächst ist mir wichtig, dass wir mit den jüdischen Gemeinden im Bereich der rheinischen Kirche viel in Kontakt sind. Wir haben ein dichtes Netz an Verbindungen; in unseren Kirchenkreisen gibt es Beauftragte und im Landeskirchenamt eine Vollzeitstelle für den jüdisch-christlichen Dialog. Diese Struktur hilft uns, Reaktionen hier vor Ort wahrzunehmen und Anteilnahme und Solidarität zu leben. Von den Menschen in Israel und Palästina hören wir vor allem Fassungslosigkeit und Entsetzen über das, was geschehen ist und geschieht. Sie sind zutiefst schockiert und viele befürchten, dass sich der Konflikt ausweitet.
Hamas-Überfall: Dramatische Folgen für Nes Ammim
Die rheinische Kirche unterstützt seit langem die christliche Siedlung Nes Ammim im Norden Israels – ein beliebter Ort für Freiwillige aus Deutschland und aller Welt, der sich der Versöhnung von Christen, Juden und Arabern verschrieben hat. Zum 60. Jubiläum wollte die Kirchenleitung im November dorthin reisen. Welche Folgen hat der Hamas-Überfall für Nes Ammim?
Volker Haarmann: Die Folgen sind dramatisch, auch in Nes Ammim gibt es seit dem Massaker der Hamas kein „Weiter so“. Inzwischen sind alle Freiwilligen in ihre Heimatländer zurückgekehrt, die Arbeit von Nes Ammim als Hotel und Begegnungsort für Verständigung und Dialog musste unterbrochen werden.
Ob die Freiwilligenarbeit weitergeht, ist also völlig offen?
Haarmann: Selbstverständlich wird es weitergehen. Wir hoffen, dass die Sicherheit bald wiederhergestellt werden kann und dann friedlichere Zustände herrschen, sodass Nes Ammim seine Arbeit wieder aufnehmen kann. Sie war nie wichtiger als jetzt: ein europäisch getragener Ort in Israel, der einen geschützten Raum für jüdisch-christliche und israelisch-palästinensische Begegnungen bietet. Seit über zehn Jahren gehören zum Dorf auch jüdische und arabische Familien. Ihr Miteinander ist jetzt angespannt und einer Bewährungsprobe ausgesetzt. Wir hoffen aber, dass die zarten Pflanzen der Verständigung weiterwachsen.
Was hören Sie über die aktuelle Situation der palästinensischen Christinnen und Christen?
Haarmann: Wir haben keine direkten Kontakte in den Gazastreifen, aber in das Westjordanland. Auch dort gibt es Entsetzen über den brutalen Angriff der Hamas auf Israel. Und es gibt Angst. Die israelische Armee hat auch im Westjordanland einzelne Stellungen der Hamas aus der Luft angegriffen. Auf palästinensischer Seite ist zudem die Sorge groß, dass der Konflikt die Konfrontation zwischen jüdischen Siedlern und den umgebenden palästinensischen Dörfern verschärft.
Anfang 2016 hat sich die Synode der rheinischen Kirche für die Anerkennung eines palästinensischen Staates ausgesprochen und zugleich ihre Solidarität mit Israel betont. Wie realistisch ist angesichts der jüngsten Entwicklung eine Zwei-Staaten-Lösung?
Haarmann: Am völkerrechtlichen Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung, das die Staatengemeinschaft formuliert hat, hat sich nichts geändert. Der von der Hamas angezettelte Krieg wird den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht lösen. Es braucht eine politische Lösung. Momentan werden die Politik und die Diplomatie in dieser Frage möglicherweise noch nicht weiterkommen, aber wir hoffen, dass möglichst bald Zeiten kommen, in denen wieder verhandelt werden kann.
Wieviel Regierungskritik an Israel ist erlaubt?
UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat im UN-Sicherheitsrat den Angriff der terroristischen Hamas auf Israel verurteilt und zugleich Israel eine Verletzung des Völkerrechts wegen der Angriffe auf den Gaza-Streifen vorgeworfen. Wieviel Kritik an der israelischen Regierung und am israelischen Vorgehen im Krieg gegen die Hamas ist erlaubt?
Janssen: Kritik an Regierungen, auch an der israelischen, ist grundsätzlich erlaubt. Nach dem grauenhaften Angriff der Hamas auf Israel darf sie aber nicht in einem Atemzug mit der Verurteilung der Hamas geäußert werden. Es braucht ein Innehalten, eine Pause, eine Unterbrechung, in der dem Entsetzen über den terroristischen Angriff Raum gegeben wird. Auch in Israel selbst halten sich Menschen, die der aktuellen Regierung kritisch gegenüberstehen, nach dem Hamas-Überfall zurück, weil in der jetzigen Situation anderes dran ist.
Haarmann: Israel hat eine lebendige Demokratie, zu der auch scharfe Diskurse und offene Kritik gehören. Das hat sich in den letzten Monaten bei den Protesten gegen die geplante Justizreform gezeigt. Eine andere Frage ist, wie wir uns von außen in den Diskurs über den israelisch-palästinensischen Konflikt äußern. Das sollten wir in erster Linie über unsere Regierung tun. In den Gesprächen mit unseren Partnern vor Ort geht es aber natürlich auch um politische Themen. Das sind offene Gespräche, ein Kritikverbot haben wir nie erlebt.
Was ist in der aktuellen Situation die Rolle der Kirchen?
Haarmann: Christliche Palästinenser und jüdische Israelis haben uns vor Jahren gesagt: Lasst uns nicht allein mit diesem Konflikt. Wir können unsere engen Beziehungen zu Menschen in Israel, Palästina und unseren jüdischen Nachbarn hier im Rheinland nutzen, um Gespräche und Begegnungen zu ermöglichen. Unsere Aufgabe ist zudem, uns am Diskurs in Deutschland zu beteiligen und die Bundesregierung in ihren Bemühungen um Sicherheit und Verständigung zu unterstützen.
Im kommenden Jahr ist Palästina Schwerpunktland des Weltgebetstags der Frauen. Droht hier eine Polarisierung zwischen projüdischen und eher propalästinensischen Gruppen oder kann der Weltgebetstag eine versöhnende Wirkung haben?
Janssen: Im Weltgebetstag 2024 liegt eine Chance für Verständigung, im Sinne eines weltweiten Gebetes für Frieden in dieser so furchtbar betroffenen Region. Dazu wäre jetzt eine engagierte Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Situation in Israel und Palästina nötig, die so nicht vorhersehbar war und in den bisherigen Entwürfen nicht berücksichtigt ist. Es braucht die Courage, auch kontrovers zu diskutieren. Aus meiner Sicht fehlt auf der Internetseite des Weltgebetstags ein Statement mit einer klaren Verurteilung des brutalen Angriffs der Hamas.