„Wir brauchen eine größere Vielfalt“

Unter dem Titel „E.K.I.R. 2030 – Wir gestalten ,evangelisch rheinisch‘ zukunftsfähig“ hat die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland ein 20-seitiges Positionspapier veröffentlicht. Im Interview spricht Präses Dr. Thorsten Latzel über konkrete Projekte, neue Zielgruppen und Vorschläge für ungenutzte Kirchenräume.


Herr Latzel, die Kirchenleitung hat das Positionspapier E.K.I.R. 2030 vorgelegt, das weniger zur Diskussion als zur Veränderung auffordert. Welche Vision einer zukunftsfähigen rheinischen Kirche steht dahinter?
Thorsten Latzel:
Diskutieren wollen und werden wir natürlich. Es geht aber nicht darum, den x-ten Reformtext zu veröffentlichen. Wir wollen Kirche konkret zukunftsfähig gestalten. Als Evangelische Kirche im Rheinland stehen wir vor tiefgreifenden Veränderungen. Als Kirchenleitung ist uns wichtig, darauf nicht nur zu reagieren und zu sparen, sondern selbst aktiv zu gestalten. Dazu hat die Kirchenleitung nun ein Positionspapier vorgelegt. Sie sagt darin, wie wir unsere Kirche in den nächsten Jahren entwickeln wollen, und lädt andere dazu ein, mitzumachen. Ein paar wichtige Punkte: Wir gehen von dem aus, was uns als rheinische Kirche ausmacht. Wir sind evangelisch & engagiert, kooperativ & kontaktstark, innovativ & international, rheinisch & resilient, kurz EKIR. Dieses Profil „rheinisch evangelisch“ wollen wir in Zukunft weiter entfalten. Auch wenn wir kleiner werden, werden wir in der Nachfolge Jesu Christi eine weltoffene Gemeinschaft nahe bei den Menschen sein. Dazu wollen wir den Kontakt zu allen Mitgliedern ausbauen, die Zusammenarbeit stärken, Chancen der Digitalisierung nutzen, vor allem junge Erwachsene einbeziehen und uns weiter intensiv miteinander und mit anderen vernetzen. Zu allen diesen Punkten werden im Papier sehr konkret 15, 16 Projekte benannt, mit denen wir das erreichen wollen.

Angesprochen sind alle kirchlichen Ebenen – von der Landessynode über die Kirchenkreise bis zu den Gemeinden. Wie stellen Sie sich den weiteren Umgang mit dem Papier vor?
Latzel:
Das Papier wird breit kommuniziert in unsere Kirche, vor allem an die Mitarbeitenden, Presbyterien und Synodalen. Es wird in den verschiedenen Gremien und Ausschüssen diskutiert werden. Zugleich machen wir uns an die konkrete Umsetzung der einzelnen Projekte. Diese liegen auf sehr verschiedenen Ebenen und entsprechend laden wir dazu ein, mitzuwirken. Als Kirchenleitung wollen wir dabei die vielfältigen Prozesse in den Gemeinden, Kirchenkreisen und Einrichtungen unterstützen und stärken. Uns ist wichtig: Wir gestalten gemeinsam unsere evangelisch rheinische Kirche zukunftsfähig. Wir packen das konkret an. Und wir tun alles dafür, dass wir weiter gut für andere und für einander da sein können.

Ein Schwerpunkt ist die Mitgliederorientierung. Vorgeschlagen werden eine breit angelegte Befragung, eine Mitglieder-App und Kasual-Agenturen. Wer soll dabei die Federführung übernehmen?
Latzel:
Zu den einzelnen Projekten stellen wir jetzt Gruppen zusammen, mit denen wir uns an die Umsetzung machen. Dazu laden wir jeweils Menschen ein, die hier eine besondere Kompetenz und Expertise haben. Auftraggeber dafür ist die Kirchenleitung. Wer dabei jeweils die Projektleitung übernimmt und zur Steuerungsgruppe gehört, hängt vom Thema ab. Hier greifen wir auf den großen Schatz an Erfahrungen von beruflichen wie ehrenamtlichen Mitarbeitenden in unserer Kirche zurück.

Bei Umgemeindungen regt das Papier an, die Mitnahme der Kirchensteuer in die neue Gemeinde zu ermöglichen. Bedeutet das mehr Wettbewerb unter den Gemeinden?
Latzel:
Es geht nicht um Wettbewerb – alle Gemeinden sind doch Teil unserer Kirche und nicht auf einem konkurrierenden Markt. Worum es geht, ist, dass wir unsere Arbeit und die kirchlichen Strukturen konsequent an den Menschen orientieren, nicht umgekehrt. Gegenwärtig ordnen wir alle Menschen einfach nach ihrem ersten Wohnsitz einer Gemeinde zu. Und wir geben ihnen keine Möglichkeit, über die Steuerung ihrer Kirchensteuer mitzuentscheiden. Hier müssen wir umdenken. Wir wollen die Felder stärken, wo Menschen sich besonders beheimatet fühlen. Und die Mitglieder sollen mehr mitgestalten können.

Was verstehen Sie unter „Mixed Economy“-Konzeptionen in jedem Kirchenkreis?
Latzel:
„Mixed Economy“ ist ein fester Begriff aus der anglikanischen Kirche. Er besagt: Wir brauchen eine Mischung aus etablierten Gemeindeformen und neuen Aufbrüchen. Als rheinische Kirche haben wir mit den Erprobungsräumen diesen Weg bereits eingeschlagen. Den wollen wir nun in den Kirchenkreisen konsequent weiterentwickeln. Auch hier gilt: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit. Mit unseren jetzigen Arbeitsweisen und Gemeindeformen erreichen wir viele Menschen sehr gut, vor allem durch die Amtshandlungen Taufe, Trauung und Beerdigung, bei den Konfirmandinnen und Konfirmanden, den jungen Familien und den Älteren. Andere erreichen wir dagegen weniger. Hier brauchen wir in Regionen eine größere Vielfalt. Da kommt den Kirchenkreisen eine Schlüsselfunktion zu, um ein Konzert verschiedener abgestimmter Angebote vorzuhalten, damit wir unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Milieus erreichen können.

An der Christuskirche in Neuss ist ein Aufkleber der Aktion „Ich brauche Segen“ zu sehen. Foto: Kathrin Jabs-Wohlgemuth

Die Corona-Pandemie hat eine Vielzahl an Digitalprojekten forciert. Wie viel Digitalisierung gehört zur Zukunftsfähigkeit der rheinischen Kirche?
Latzel:
Die Digitalisierung durchdringt als Mega-Thema alle Bereiche unserer Gesellschaft, auch die Kirche. Hier haben wir auf allen kirchlichen Ebenen in den vergangenen anderthalb Jahren viel nachgeholt. Unsere Kirche wird in Zukunft selbstverständlich eine Verbindung von analogen, digitalen und hybriden Formaten haben. In dem Positionspapier geht es konkret darum, digitale Presbyteriumswahlen zu ermöglichen, Netzwerke und Kommunikationsstrategien in den sozialen Medien zu fördern und einen Thinktank „Digitale Kirche“ zu installieren. Gerade an meinen eigenen Kindern sehe ich, wie schnell sich hier Konsumgewohnheiten und Lebensweisen wandeln. Als Kirche haben wir hier noch Luft nach oben, gerade wenn wir junge Menschen ansprechen wollen.

Schon bei Ihrer Bewerbung um das Präsesamt haben Sie von den 20- bis 40-Jährigen als einer entscheidenden Zielgruppe gesprochen. Welche konkreten Ansatzpunkte bietet das Positionspapier dafür?
Latzel:
Als Kirche sind uns Menschen aller Altersgruppen wichtig. Bei den 20- bis 40-Jährigen haben wir in den Gemeinden nur die größte Herausforderung, sie zu erreichen. Und es sind zugleich die Personen, die für die kommenden zwanzig, dreißig Jahre gesellschaftlich eine zentrale Rolle spielen werden, auch für die Weitergabe christlichen Glaubens in die nächste Generation. Dazu gibt es einige konkrete Projekte: etwa Young Preaching, ein Modell, um junge Menschen auf die Kanzeln zu holen, die Einrichtung einer Ehrenamtsakademie oder die Stärkung von sogenannten Vorfeld-Organisationen wie Kitas und Schulen.

Mehr junge Menschen sollen die Möglichkeit zum Predigen bekommen – jenseits der Zurüstung für Prädikantinnen und Prädikanten?
Latzel:
Ja. Wenn wir junge Erwachsene erreichen wollen, brauchen wir junge Erwachsene. Gerade in den Übergangsphasen von Schule zu Ausbildung oder Studium und dann wieder von Ausbildung oder Studium zur Berufstätigkeit gibt es Phasen, in denen wir jungen Menschen eine Mitwirkung in der Verkündigung eröffnen wollen: um sie zu fördern, um von ihnen zu lernen, um ihnen eine Heimat zu bieten und um gemeinsam mit ihnen Gemeinden weiterzuentwickeln. Diese Zielgruppe hat eigene Kommunikationsweisen und braucht ein spezifisch auf ihre Lebensphase zugeschnittenes Angebot.

Der Altenberger Dom in Odenthal (Rheinisch-Bergischer Kreis) wird simultan von evangelischer und katholischer Gemeinde genutzt. Foto: Ekkehard Rüger

Ist die Zukunft der Kirche eine ökumenische?
Latzel:
Auch hier ein klares Ja. Zugleich müssen wir sagen, was wir mit Ökumene meinen. Die internationale Ökumene wird für uns als evangelische Kirche zukünftig noch wichtiger werden. Wir bleiben bei unseren Mitgliedern und Mitarbeitenden oft weit hinter der Vielfalt in unserer Gesellschaft zurück. Wir sind faktisch sehr biodeutsch, obwohl wir ein anderes Selbstverständnis haben. Gerade auch für junge Menschen, die in einer globalisierten Welt aufgewachsen sind, sollten wir den Reichtum unserer weltweiten Beziehungen stärker entfalten. Ein anderer Bereich der Ökumene betrifft die Beziehung zu anderen christlichen Konfessionen. Auch hier wollen und werden wir die Zusammenarbeit fördern.

Ökumenische Nutzungen kirchlicher Gebäude werden schon länger diskutiert. Die Idee „Rent a church“ geht darüber hinaus.
Latzel:
Unsere Kirchen stehen zu rund 90 Prozent der Zeit da, ohne genutzt zu werden. Hier schlummert ein großes, unausgeschöpftes Potenzial. Das zeigen gerade digitale Plattformen in anderen Bereichen. Wir haben einzigartige, beeindruckende geistliche Räume, oft in Spitzenlagen. Andere Organisationen, Vereine und Menschen suchen oftmals Räume. Hier bieten sich großen Chancen der Vernetzung und auch der Refinanzierung. Es ist nicht sinnvoll, unsere Kirchen außer zum Sonntagsgottesdienst und vereinzelten Konzerten leer stehen zu lassen. Wir brauchen eine Plattform, um den Gemeinden eine Möglichkeit zu bieten, ihre Kirche gezielt anzubieten – für zivilgesellschaftliche Treffen, Hochzeiten, Kulturveranstaltungen oder nächtliche Kirchenführungen.

Veränderung gelingt nur, wenn viele Menschen bereit dazu sind. Was will die Kirchenleitung dazu beitragen?
Latzel:
In unseren Gemeinden, bei den Kirchenmitgliedern und in unseren Mitarbeitenden gibt es viel Wunsch nach Aufbruch. Und mir begegnen in Gesprächen immer wieder viel Energie und viele gute Ideen. Das wollen wir von unserer Seite bestärken. Als Kirchenleitung ist uns wichtig, nicht darüber zu reden, was „die Kirche“ machen soll, sondern ganz konkret das anzupacken, was wir tun können. So wollen wir die vielen bestärken, die mit uns auf dem Weg sind, und andere einladen. Dafür ist uns geistliche Zurüstung wichtig. Letztlich ist es Gott selbst, der durch seinen guten Geist Kirche gestaltet. Es ist wichtig, dass wir uns selbst davon immer wieder leiten und füllen lassen. So können wir mit einer transformativen Spiritualität auch einen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten, in der wir unsere Lebensweise ökologisch grundlegend neu ausrichten müssen. So wie es am Ende des Papiers heißt: „Wir glauben an Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der in Christus uns zu neuen Menschen macht und in seinem Geist Grenzen überwindet. […] Das sollte reichen, um auch selbst die Evangelische Kirche im Rheinland zu verändern.“


Das Positionspapier findet sich zum Download hier.

  • 26.8.2021
  • Ekkehard Rüger
  • ekir.de/Dominik Asbach