Die Katastrophe bleibt – und die betroffenen Menschen auch

Am kommenden Sonntag, 15. August, wird der Katastropheneinsatz im Ahrtal beendet. Die Hilfsorganisationen, die derzeit noch auf dem ehemaligen Flugplatz in Mendig stationiert sind, gehen dann. Aber die Katastrophe bleibt – und die vom Hochwasser betroffenen Menschen auch.

„Von der Akutversorgung geht es jetzt in eine neue komplexe Lage“, sagt Eberhard Hoppe. Der Pfarrer aus dem hessischen Lahn-Dill-Kreis hat im Auftrag der Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland von dem Containerdorf aus eine gute Woche lang die Kräfte im Einsatz koordiniert und begleitet. Auch für sie endet der Katastropheneinsatz. Aber der Bedarf an Seelsorge endet nicht: „Wir haben gestern eine Familie beim Abriss ihres einsturzgefährdeten Hauses begleitet“, erzählt Hoppe. Er berichtet von freiwilligen Helferinnen und Helfern, die nach wie vor im Ahrtal anpacken und die dabei auch mit dem Fund von Leichenteilen konfrontiert sind. Der Seelsorger weiß um einige Menschen – zumeist über 80 Jahre alt –, die in oberen Stockwerken ihres Hauses bleiben wollen, obwohl es weder Strom noch Wasser oder eine funktionierende Toilette gibt.

Containerdorf für 600 obdachlos gewordene Menschen

Wenn die Helferinnen und Helfer aus dem eilends errichteten Containerdorf in Mendig ausziehen, sollen dort 600 Menschen einziehen, die bei der Katastrophe im Ahrtal obdachlos geworden sind. Derzeit sind viele in Hotels in der Region untergekommen. Ob wirklich viele in die Wohncontainer ziehen wollen, bezweifeln manche Helfer. Das Behelfsquartier liege noch weiter von den Orten, Grundstücken und Häusern entfernt. Aber dort wollten die Flutopfer nach wie vor sein, um wenigstens irgendetwas „daheim“ tun zu können. Hin wie her: Auch sie brauchen Menschen mit offenen Ohren, die zuhören, wenn sie von den schrecklichen Stunden am 14. und 15. Juli erzählen.

Vor der Martin-Luther-Kirche in Bad Neuenahr ist die Uferstraße an der Ahr völlig zerstört.

Erzählen, immer wieder erzählen

Erzählen, immer wieder erzählen – das tun die Menschen dort, wo sie sich derzeit treffen: Auf dem Platz vor dem Kaufhaus Moses in Bad Neuenahr zum Beispiel. Dort betreibt das Technische Hilfswerk (THW) einen Stromgenerator. Nebenan stehen Tische eines geschlossenen Straßencafés. Hier können die Menschen ihre Handys aufladen. Strom hat die schwer verwüstete Innenstadt des vormals so idyllischen Kurorts an der Ahr nicht. Ein Mann hat sich hundert Meter entfernt am Versorgungszelt der Evangelischen Kirchengemeinde einen Kaffee geholt. Pfarrer Friedemann Bach hat befreundete Pfadfinder aktiviert und diesen Treffpunkt geschaffen. Jetzt sitzt der Kaffeetrinker mit ein paar anderen Leuten neben dem Generator und erzählt von einem fast nagelneuen Porsche Cayenne, den die Wassermassen hochkant bis an den 1. Stock eines Hauses gedrückt haben.

Verstörendes Bild unter strahlend blauem Himmel

Die schwer beschädigte Martin-Luther-Kirche, wenige Meter vom Ufer der Ahr gegenüber dem Kurhaus gelegen, ist inzwischen von Wasser und Schlamm befreit – und von allem, was in ihr stand. Der Boden des Gotteshauses wurde teilweise von den Fluten hochgedrückt. Ein paar beschädigte Kirchenbänke stehen vor dem markanten Gebäude. Auch dort, zwei Meter von der völlig aufgebrochenen Uferstraße der Ahr entfernt, sitzen ein paar Menschen in Arbeitskleidung, die Pause machen. Auch sie erzählen ihre Geschichten der Flutnacht. Ein Mann aus Andernach hilft Freunden. Er berichtet von lebensbedrohlichen Szenen, die sich in der Hochwasernacht in einer Traumaklinik zugetragen haben. Durch die zerstörte Einkaufsstraße neben der Kirche kommen zwei Männer. Im Vorübergehen ist zu hören, wovon sie erzählen: vom fast nagelneuen Porsche, den die Flut mitgerissen hat … Die Berichte der Menschen fügen sich beim Anblick der zerstörten und inzwischen in Erdgeschoß und Keller entkernten Wohn- und Geschäftshäuser in der Innenstadt zu einem verstörenden Bild – dem strahlend blauen Himmel über dem Kurhaus zum Trotz.

Auch die Kurhaus-Brücke ist von den Wassermassen weggerissen worden – und mir ihr die allermeisten anderen Brücken entlang der Ahr.

Unterstützende Seelsorgerinnen und Seelsorger stehen parat

„Die Normalität muss jetzt vor Ort passieren.“ Den etwas sperrigen Satz sagt Notfallseelsorger Eberhard Hoppe. Was er meint: Für die Menschen im Ahrtal wird das Holen von Trink- und Brauchwasser an Ausgabestellen in ihren Orten noch länger Normalität sein, so wie das Laden des Handys dort, wo ein Generator steht. Und in dieser Normalität brauche es nicht nur helfende Hände, sondern auch offene Ohren. Das können die Seelsorgerinnen und Seelsorger aus den örtlichen Kirchengemeinden, die selbst vom Hochwasser schwer gebeutelt sind, wohl nicht ohne Unterstützung leisten; schon gar nicht über Wochen und Monate. Deswegen kommt der Krisenstab der Evangelischen Kirche im Rheinland über eigens eingesetzte Kontaktleute mit den betroffenen Gemeinden ins Gespräch: Freiwillige Seelsorgerinnen und Seelsorger aus anderen Teilen der rheinischen Kirche stehen parat, um zu helfen, wo sie gebraucht werden, denn auch wenn der Katastropheneinsatz endet: Die Katastrophe bleibt – und die Kirche bleibt bei den von ihr betroffenen Menschen.

Video-Tipp: Vom Umgang mit den Betroffenen der Hochwasserkatastrophe. Ein Gespräch mit Notfallseelsorgerin Bianca van der Heyden

  • 10.8.2021
  • Jens Peter Iven
  • Jens Peter Iven