Präses Dr. Thorsten Latzel: „Der Winter geht, die Armut bleibt“

Dr. Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, nimmt Stellung zum Abschluss der Aktion #wärmewinter:

Präses Dr. Thorsten Latzel
Präses Dr. Thorsten Latzel. Foto: EKiR/Dominik Asbach

Im September 2022 haben die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie die groß angelegte Aktion #wärmewinter gestartet. Die Aktionen waren bundesweit sehr vielfältig und reichten von der Bereitstellung warmer Räume über das Austeilen warmen Essens bis hin zu Energiegutscheinen und praktischen Beratungsangeboten, um die staatlichen Hilfen leichter zugänglich zu machen. Für uns als Christinnen und Christen gehört es zum Selbstverständnis unseres Glaubens, Menschen in Not zu helfen.

Verunsicherung in der Gesellschaft ist gestiegen

Die Energiekrise hat sich – Gott sei Dank – über den Winter nicht so dramatisch entwickelt wie noch im letzten Herbst befürchtet. Und doch ist die Verunsicherung in weiten Teilen der Gesellschaft deutlich gestiegen. Zum einen war die Gesellschaft schon vor den Krisen von großer und immer weiterwachsender Ungleichheit geprägt. Zum anderen verschlechtert die Verteuerung der Energie, zusammen mit einer breiten Inflation, die Einkommenssituation vieler Menschen oft dramatisch.

Ärmere Haushalte sind stärker von Armut betroffen

Die tatsächliche Inflation ist dabei stark einkommensabhängig. Ihre wesentliche Ursache hat sie neben der Steigerung der Energiepreise in der Steigerung der Nahrungsmittelpreise. Nun geben ärmere Haushalte prozentual viel mehr ihres Einkommens für Energie und Nahrungsmittel aus als wohlhabendere Haushalten. Die Hans-Böckler-Stiftung hat herausgefunden, dass die effektive Inflation bei ärmeren Haushalten um fast drei Prozent höher liegt als für wohlhabendere Haushalte (Inflationsmonitor von Februar 2023).

Defektes Auto kann in die Überschuldung führen

Diese nackte Zahl bedeutet für viele Menschen konkret eine massive Belastung durch wachsende Lebensrisiken: In den größeren Städten steigen die Mieten, ebenso die Preise für Gebrauchtwagen. Damit steigt das Risiko, dass Menschen, die sich bislang mit einem geringen Einkommen gerade noch finanzieren können, durch die Notwendigkeit, umzuziehen oder sich ein neues Auto anzuschaffen, schnell an den Rand ihrer Kräfte kommen. Die Schuldnerberatungen werden zurzeit von vielen Menschen besucht, die nicht über eine aktuelle Notlage reden wollen, aber über solche, die in naher Zukunft drohen. Ein defektes Auto, ein Umzug kann sie schnell in die Überschuldung treiben.

Kindergrundsicherung hilft Familien und Alleinerziehenden

Deshalb ist es dringend erforderlich, die nun verschärften Formen von Armut in den Blick zu nehmen. Da insbesondere einkommensschwache bzw. kinderreiche Familien und Alleinerziehende betroffen sind, kann eine Kindergrundsicherung teilweise Abhilfe schaffen. Sie ist schon länger eine Forderung der Evangelischen Kirche im Rheinland (Kindergrundsicherung, Beschluss 49 der Landessynode 2020, Kindergrundsicherung). Die Bundesregierung ist daran zu erinnern, dass der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien von 2021 die Einführung einer Kindergrundsicherung vorsieht. Auch sollte über eine langfristige Finanzierungsstrategie zur Armutsbekämpfung nachgedacht werden. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat auf ihrer Synode Anfang des Jahres hervorgehoben, dass dabei auch über eine dem Grundgesetz konforme Vermögenssteuer nachgedacht werden muss (Beschluss 36 der Landessynode 2023 Energiekrise, Inflation und Armut).

Menschen in Armut gilt Gottes besondere Zuwendung

Die Armut wird sich in der kommenden Zeit sehr wahrscheinlich noch weiter verschärfen, auch wenn die größten Verwerfungen durch die unmittelbare Energiekrise hoffentlich vermieden werden können. Deshalb ist es für uns wichtig, die Situation armer Menschen in Deutschland dauerhaft in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Menschen in Not oder Armut gilt Gottes besondere Zuwendung. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel – von den sozialen Geboten des Alten Testaments über die Botschaft Jesu bis zur Verheißung von Gottes kommender Welt. Jesus Christus hat sich mit dem Leiden jedes Mitmenschen identifiziert: „Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. […] Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. […] Was ihr einem dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,35 ff.). In seiner Nachfolge gehören für uns die Liebe zu Gott und zu den Schwächsten unlöslich zusammen.

 

 

#wärmewinter: Wie rheinische Gemeinden und Kirchenkreise helfen

Unter dem Hashtag #wärmewinter haben die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie eine gemeinsame Aktion gestartet. Angebote vor Ort sollen ein sichtbares und öffentliches Zeichen gegen soziale Kälte und für Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe setzen. Die Energiekrise in Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sowie die hohe Inflation haben vielerorts zu einer Vervielfachung der Kosten für Heizung und warmes Wasser geführt. Viele Haushalte in Deutschland können sich diese enormen Kostensteigerungen nicht leisten. Durch die Aktion #wärmewinter sollen Menschen in Not Hilfe bekommen. Auch Gemeinden und Kirchenkreise der Evangelischen Kirche im Rheinland beteiligen sich. Wir haben einige Beispiele ausgesucht.

Unterstützung aus Hürth für internationale und lokale Projekte

Die Evangelische Kirchengemeinde Hürth hat mit den Mehreinnahmen durch die Besteuerung der Energiepauschle Menschen unterstützt, die von den Teuerungen und den Auswirkungen der globalen Krise besonders betroffen sind:  Jeweils 3000 Euro gingen an die Überlebensstation Gulliver, das Haus Salierring sowie die Hürther Tafeln. Mit je 1000 Euro unterstützt die Kirchengemeinde die vier internationalen Projekte Talita Kumi e.V. in Ecuador, KARO e.V., das Hamlin Fistula Hospital in Äthiopien und die Schülerhilfe in der Hürther Partnerstadt Karbanet. Zudem gingen 1250 Euro an den Kinderschutzbund Hürth. Ausführlichere Informationen finden Sie hier.

„Warm & herzlich“ in Essen: Kirche für Magen und Seele

Mit der Aktion „warm und herzlich“ öffnet die Altstadtgemeinde in Essen jeweils an drei Tagen in der Woche ihre Kirchen zum Zusammenkommen im Warmen. Kirche für Magen und Seele lädt zur Suppe und warmen Getränken ein. Die Kreuzeskirche ist mittwochs von 12 bis 15 Uhr geöffnet, die Marktkirche dienstags von 15 bis 20 Uhr und die Auferstehungskirche donnerstags von 12 bis 15 Uhr. Weitere Informationen gibt es hier.

Solidaritätsfonds in Wuppertal: Unbürokratische und zügige Hilfe

Mit einem #wärmewinter-Solidaritätsfonds für in Not geratene Menschen in der Stadt ist die Evangelische Kirche in Wuppertal ins neue Jahr gestartet. Hilfesuchende erhalten eine umfangreiche Sozialberatung. In vielen Fällen kann die Beratung Zugänge zu staatlichen Unterstützungen vermitteln.
Die Mittel zur Finanzierung des Beratungsangebots und für die Einzelfallhilfen stammen aus den zusätzlichen Kirchensteuereinnahmen durch die staatlich ausgezahlte Energiepauschale sowie aus Spenden. Die Hilfe durch den #wärmewinter-Solidaritätsfonds soll unbürokratisch und möglichst zügig erfolgen.
Die Hilfe ist für Menschen gedacht, bei denen das Geld knapp ist. Menschen, die ihre Strom- oder Gasrechnung nicht bezahlen können oder denen Geld für Lebensmittel für die Familie fehlt. Der #wärmewinter-Fonds will auch mit Überbrückungszahlungen helfen, wenn Betroffene zwar Anspruch auf öffentliche Gelder haben, sich die Auszahlungen aber verzögern. Weiter Informationen zum Wuppertaler Solidaritätsfonds finden Sie hier. Ein Interview über das Beratungsangebot mit Eric Stöcker, Leiter des Stadtteilzentrums WiKi, können Sie hier lesen.

Warme Decken in der Duisburger Salvatorkirche

Unter dem Motto „Winterkirche in Duissern“ hat die Evangelische Kirchengemeinde Alt-Duisburg verschiedene Maßnahmen getroffen, um Einsparungen der enorm gestiegenen Energiekosten zu erreichen. In der Salvatorkirche soll zum Beispiel die Raumtemperatur nicht mehr und nicht weniger als 16 Grad betragen. Diese müssen allein für die große Orgel eingehalten werden. Richtig frieren muss jedoch niemand, denn die Gemeinde hat zusätzlich zu den vorhandenen Sitzkissen Decken angeschafft, die zu den Gottesdiensten am Eingang ausgeteilt werden. Auch für die Lutherkirche und die Marienkirche wurden energiesparende Maßnahmen beschlossen.  „Mit diesen Beschlüssen wollen wir als Kirchengemeinde unseren Beitrag dazu leisten, damit der Energieverbrauch und die -kosten im Rahmen bleiben. Auf ein wenig „Wohlfühlwärme“ werden wir verzichten müssen. Aber wir gehen davon aus, dass die Herzenswärme weiterhin ihren Platz bei uns haben wird“, sagt Pfarrer Martin Winterberg, Vorsitzender des Presbyteriums der Gemeinde.
Die zusätzlichen Kirchensteuereinnahmen, die auf die vom Staat an die Bürgerinnen und Bürger einmalig ausgezahlten Energiepauschalen anfallen und die auch die Evangelische Kirchengemeinde Alt-Duisburg erhält, wendet diese übrigens nicht für Gas- oder Stromkosten auf. Die zu erwartende Summe an zusätzlichen Kirchensteuereinnahmen von 16.000 Euro soll nicht in die eigene Tasche wandern, sondern diese stockt die Gemeinde auf und spendet je 10.000 Euro für „Gemeinsam gegen Kälte“ und „Tafel Duisburg“ für deren Arbeit in diesem Winter.  Mehr zu den Maßnahmen in Duissern können Sie hier lesen, einen Beitrag über den kostenfreien Mittagstisch in Duisburg-Obermeiderich gibt es hier und einen Überblick, wie sonst noch im Kirchenkreis Duisburg gespart wird, finden Sie hier.

Ökumenische Winterkirche in Mettmann

In Mettmann haben die Evangelische und die Katholische Kirchengemeinde gemeinsam die „Ökumenische Winterkirche“ ins Leben gerufen. Seit Mitte Januar öffnet die evangelische Kirche in der Freiheitsstraße 19a an drei Tagen in der Woche ihre Türen für einen Mittagstisch: dienstags bis donnerstags von 12 bis 13.30 Uhr. Es ist ein wenig geheizt und es gibt eine warme Suppe, wer mag gegen Spende. Zudem beraten dienstags und donnerstags fachkundige Mitarbeiter von Caritas, Diakonie und SKFM zu Hilfen bei hohen Strom- und Gasrechnungen. Die Winterkirche endet mit dem Frühlingsanfang. Mehr Informationen finden Sie hier.

Warmes Essen im Diakoniekaufhaus Neunkirchen

Im Diakoniekaufhaus in Neunkirchen (Wellesweiler Straße 83) hat die Diakonie Saar ein Wintercafé eröffnet. Täglich von montags bis freitags zwischen 11 und 13 Uhr gibt es wechselndes warmes Essen inklusive Tee für einen Beitrag von 1 Euro pro erwachsener Person. Gefördert wird das Wintercafé durch das Sozialministerium im Rahmen der Kampagne „Das Saarland rückt zusammen“.  „Mit unserer Beteiligung an der Winteraktion möchten wir ein Zeichen der Solidarität setzen und mehr Gemeinschaft ermöglichen“, erklärt Anne Fennel, Geschäftsführerin der Diakonie Saar. „Unsere Mitarbeitenden beraten auch, wo weitere Hilfen, zum Beispiel bei finanziellen Notlagen, zu bekommen sind.“

  • 23.3.2023
  • Red.
  • EKD